Auf einem buddhistischen Retreat mit dem berühmten Zen-Mönch Thich Nhat Hanh haben meine Frau und ich ein Ritual kennen gelernt, welches wir für unsere Beziehung als so heilsam empfinden, dass ich nicht müde werde, es Paaren zu empfehlen.
Dieses "Neuanfang" titulierte Ritual schafft einen sicheren Rahmen, in welchem das, was euch im Beziehungsalltag bewegt, ausgesprochen werden kann - das Angenehme wie das Unangenehme. Dadurch entfaltet es eine reinigende Wirkung, es entfernt Verunreinigungen in der Beziehungs-Atmosphäre und lässt Wertschätzung, Gesehen-Werden und Verbundenheit entstehen.
Sucht euch dafür eine ungestörte Zeit aus und tragt am besten auch gleich eine Terminserie für eure Neuanfänge in den Kalender ein - vielleicht fangt ihr mit einem wöchentlichen Tournus an?
Wichtig finde ich, dass das Ritual in eurem Kalender die selbet Wichtigkeit bekommt wie beispielsweise eine Verabredung mit Freunden: er wird ohne schwerwiegenden Grund nicht abgesagt, sondern höchstens verschoben.
So funktioniert der Neuanfang
Bei dem Ritual setzt ich euch gegenüber. Am Besten ohne einen Tisch zwischen euch, weil der wie eine Barriere wirkt. Gestaltet es feierlich, mit einer Kerze zwischen euch. Dadurch soll der besondere und heilsame Charakter des Neuanfangs symbolisiert werden. Wer eine Klangschale hat, kann sie nun anschlagen und ihr lauscht gemeinsam, bis der Ton verklungen ist.
Nun beginnt einer von euch zu sprechen, der andere hört aufmerksam und schweigend zu.
⚠️Versucht als Zuhörende jegliche Art von direkten Rückmeldungen zu unterlassen. Also keine Widerrede, kein wildes Kopfschütteln, kein Augenrollen. Haltet den
Augenkontakt und hört einfach nur zu. Diese für viele ungewohnte Art des schweigenden Zuhörens ist ein zentrales Element des Rituals!
Der Sprechende strukturiert das, was er sagt, in vier festgelegten Phasen. Wenn er damit fertig ist, sagt er "fertig". Nun wechselt die Rollen und der andere beginnt in der Reihenfolge der vier Phasen zu sprechen:
1. Dankbarkeit und Wertschätzung aussprechen
Teilt eurem Partner oder Partnerin eure Wertschätzung mit, indem ihr von konkreten Handlungen, Worten oder Eigenschaften von eurem Gegenüber erzählt, die ihr als positiv erlebt habt, seien sie auch noch so klein. Diesen Teil wurde als "Die Samen wässern" genannt - damit die Saat der Wertschätzung in der Partnerschaft aufgeht.
Beispielsweise "Das du mir gestern zugehört hast, als ich dir von meinen Sorgen erzählt habe, hat mir sehr gut getan. Danach ging es mir schon viel leichter!", oder "Ich bin dir sehr dankbar, dass du die Kinder ins Bett gebracht hast, obwohl wir eigentlich gesagt hatten, dass ich das heute mache. Ich war so Aufgewühlt nach der Arbeit! So konnte ich wieder etwas mehr zu mir kommen."
Dadurch merkt euer Partner oder Partnerin, wie sehr sie/er euer Leben bereichert. Erzählt nicht nur die Handlung, sondern besonders, wie ihr euch dadurch gefühlt habt.
2. Bedauern ausdrücken
Manchmal bist du der Meinung, dass du etwas getan oder gesagt hast, was für den anderen schwierig war. Dafür kannst du jetzt dein Bedauern ausdrücken.
"Gestern hattest du gesagt, dass du den Abend mit mir verbringen möchtest. Eigentlich hätte ich Zeit für mich alleine gebraucht. Aber ich habe es nicht geschafft, dir das zu sagen. Deshalb war ich schlecht gelaunt. Das bedaure ich, weil dadurch unser Abend nicht angenehm war." Oder: "Zur Zeit bin ich sehr zurück gezogen. Ich merke, dass dich das bedrückt - das tut mir leid. Ich weiss gerade selbst nicht, was mit mir los ist."
So etwas einfach zu sagen tut unheimlich gut und entlastet schlechte Gewissen.
3. Erzähle von Herausforderungen in der Partnerschaft
Jetzt ist der Zeitpunkt zu erzählen, was dich in der Partnerschaft gerade drückt und was für dich schwierig ist. Auch Worte oder Handlungen deines Partners, die dich belasten oder dich triggern, egal wie klein sie dir erscheinen möchten. Nur dadurch wird der sprichwörtlichen Mücken kein Elefant. Also - die Zahnpastatube, Spülmaschine oder anderer Umgang mit den Kindern, das alles hat hier Platz. Versuche dabei zu erzählen, was die Handlung bei dir an Gefühlen und Gedanken ausgelöst hat:
"Als du gestern gesagt hast, dass ich im Haushalt nie helfe, dass hat mich schwer getroffen. Dadurch ziehe ich mich zurück und fühle mich nicht gesehen."
Beschränke dich auf drei Kritikpunkte, damit dein Partner diese wirklich annehmen kann. Es soll ja keine Anklage werden, sondern ein Austausch auf Augenhöhe.
4. Um Unterstützung bitten
Vielleicht hast du ein Thema, was dich gerade sehr beschäftigt. Beispielsweise gibt es Änderungen im Job, die dich verunsichern. Oder die Entwicklung in der Welt bedrücken dich. All das kannst du hier sagen und vielleicht auch mit einem Wunsch verbinden:
"Ich weiss nicht, was die Einladung zum Mitarbeitergespräch bedeutet - da bin ich sehr verunsichert, was da auf mich zukommt. Ich weiss, dass ich deshalb zur Zeit leicht gereizt bin. Es würde mir helfen, wenn du mich dann einfach lassen könntest."
Seitenwechsel
Wenn der Erste von euch fertig ist, sagt er oder sie "Fertig". Dann lasst ein paar Atemzüge verstreichen, bevor der/die andere nun an der Reihe ist und die Schritte 1 bis 4 durchführt.
Und nach dem Ritual...?
Nach dem Ritual könnt ihr euch noch gemütlich zusammen setzen. Spürt nach, wie ihr euch nach dem Ritual fühlt. Und, wenn es für euch passt, sprecht darüber, was ihr gerade über eure Beziehung und den anderen gelernt habt.
Wichtig: Zerredet das Gehörte nicht! Jeder hat seine eigene Wahrheit - versucht nicht, euch zu rechtfertigen oder dem anderen zu sagen, dass er aus eurer Sicht völlig falsch liegt.
Lasst die Worte wirken, kuschelt und genießt das Geschenk eurer Zweisamkeit.
Bild von Myriams-Fotos auf Pixabay